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Später am Vormittag, als Dylan und ihre Reisegefährtinnen in den Zugstiegen, der sie von Jicín nach Prag bringen würde, raste ihr Herz immer noch. Es kam ihr lächerlich vor, dass sie sich von einem Landstreicher, den sie in der Höhle aufgescheucht hatte, so durcheinanderbringen ließ.

Bei dem musste schon eine Schraube locker sein, dass er dort oben hauste wie ein Wilder. Aber er hatte ihr nichts getan.

Schon seltsam, wie er zusammengebrochen war, als sie nochschnell ein paar Fotos von der Höhle machen wollte, bevor er sie mit Gewalt hinauswarf. Anscheinend hatte sie ihm mehr Angst gemacht als er ihr.

In ihrem Zugabteil lehnte Dylan sich im Sitz zurück, den aufgeklappten Laptop auf dem Schoß. Reihen von kleinen Vorschaubildern erschienen nach und nach auf dem Bildschirm, während sie die Bilder ihrer Digitalkamera über das dünne schwarze Verbindungskabel auf die Festplatte übertrug. Die meisten hatte sie in den letzten paar Tagen ihrer Reise gemacht, aber es waren die letzten Fotos, die Dylan jetzt interessierten.

Sie machte einen Doppelklick auf das erste dunkle Viereck aus der Höhle. Das Foto erschien in Vollansicht und füllte den kleinen Bildschirm ihres Laptops. Nachdenklich betrachtete Dylan das Gesicht, das fast vollständig verborgen war hinter einem wirren, ungepflegten Haargestrüpp. Die stumpfen espressobraunen Haarsträhnen hingen über rasiermesserscharfe Wangenknochen und wilde Augen herunter, die den ungewöhnlichsten Reflexionseffekt zeigten, den Dylan je gesehen hatte. Sie leuchteten nicht etwa kaninchenrot, sondern glühten in einem ungewöhnlichen Bernsteingelb. Sein Unterkiefer wirkte stählern, und die vollen Lippen hatten sich in einem wütenden Fauchen zurückgezogen, das selbst die riesige Pranke, die ihr die Linseblockieren wollte, nicht ganz verbergen konnte.

Himmel, da würde sie in ihrem New Yorker Büro gar nicht viel retuschieren müssen, um diesen Typen dämonisch wirken zu lassen.

Das war ja fast schon einer.

„Wie sind deine Fotos geworden, Liebes?“ Janet, die neben Dylan auf dem gepolsterten Abteilsitz saß, lehnte ihren silbernen Lockenkopf zu ihr hinüber. „Grundgütiger Himmel! Was ist das denn?“

Dylan zuckte die Achseln, unfähig, ihren Blick von dem Foto zulösen. „Nur so ein heruntergekommener Obdachloser, den ich heute früh in der Höhle aufgescheucht habe. Er weiß es noch nicht, aber er wird der Star meiner nächsten Story für die Zeitung. Was denkst du?

Schau dir dieses Gesicht an und sag mir, ob du nicht einen blutdurstigen Wilden siehst, der in den Bergen haust und auf seinnächstes ahnungsloses Opfer wartet.“

Janet erschauerte und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. „Du kriegst noch Albträume, wenn du dir weiter solches Zeug ausdenkst.“

Dylan lachte und klickte das nächste Foto auf dem Bildschirm an.

„Ich doch nicht. Ich hatte noch nie einen Albtraum. Ich träume eigentlich überhaupt nie. Tabula rasa, jede Nacht.“

„Nun, da kannst du wohl von Glück reden“, meinte die ältere Frau.

„Ich träume wildes Zeug, schon immer. Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich einen wiederkehrenden Traum von einem weißen Pudel mit lackierten Zehennägeln, der auf dem Fußende meines Bettes sang und tanzte. Ich habe ihn immer angefleht, doch bitte aufzuhören und mich schlafen zu lassen, aber er sang einfach immer weiter. Kannst du dir das vorstellen? Meistens sang er alte Musicalnummern, die mochte er am liebsten. Mir haben die auch immer gut gefallen...“

Dylan vernahm Janets Stimme neben sich, aber als sie nach und nach die übrigen Fotos aus der Höhle ansah, hörte sie nur nochhalbherzig zu. In ihrem hektischen Versuch, ein vollständiges Panorama der Höhle zu bekommen, war ihr eine halbwegs ordentliche Aufnahme des Steinsarkophags gelungen, und auch ein Teil der aufwendigen Wandbemalung war gut zu erkennen. Jetzt, wo sie die Möglichkeit hatte, die Muster in Ruhe zu betrachten, waren sie sogar noch beeindruckender.

Ineinanderverschlungene Bögen und elegante verschnörkelte Linien in einem dunklen Rotbraun liefen die gesamte Höhlenwand entlang. Sie wirkten wie altertümliche Stammessymbole und doch seltsamfuturistisch - so etwas hatte sie noch nie gesehen. Weitere Symbole und verschlungene Linien zierten die Seite des Sarkophages ... und als ihr Blick auf eines dieser Muster fiel, stellten sich plötzlich Dylans Nackenhaare auf.

Sie zoomte das seltsame Muster heran.

Was zum Teufel ...?

Eine Träne, die in die Wiege einer zunehmenden Mondsichel fiel.

Das Symbol war unverkennbar, eingebettet in eine Reihegeschwungener Linien und geometrischer Muster. Verblüfft starrte Dylan es an und empfand nun zunehmend Verwirrung. Dieses Symbol war ihr nicht unbekannt. Sie hatte es schon gesehen, und zwar unzählige Male.

Nicht auf einem Foto, sondern auf ihrem eigenen Körper.

Wie um alles in der Welt konnte das sein?

Dylan hob die Hand und legte die Fingerspitzen in den Nacken, bestürzt von dem, was sie sah. Ihre Finger fuhren über die glatte Haut am oberen Ende ihrer Wirbelsäule, wo sie wusste, dass sie einwinziges purpurrotes Muttermal trug ... das genauso aussah wie das Symbol auf ihrem Bildschirm.

 

Den ruhigen, kalten Blick fest auf den Höhleneingang gerichtet, drückte Rio den Auslöseknopf auf dem C-4-Zünder. Ein leiser Piepton war zuhören, als die Fernsteuerung die Verbindung herstellte, und dann dauerte es keine halbe Sekunde, bis der Plastiksprengstoff, der im Felsen angebracht war, hochging. Die Explosion war laut und tief, das Beben breitete sich in den umgebenden nachtdunklen Wäldern aus wie Donnergrollen. Dicker gelber Staub und Sandsteinbrocken schossen aus dem Höhleneingang und lichteten sich, als sich die Wände des Höhleneingangs schlossen und die Grabkammer mit ihren Geheimnissen unter sich begruben.

Rio sah von draußen, etwas unterhalb der Höhle, zu. Er wusste, dass er in der Höhle hätte bleiben sollen, und normalerweise hätte er das auch getan, wenn nicht seine zuvor verspürte Schwäche ihn davon abgehalten hätte - und die Begegnung mit der Frau.

Es hatte ihn fast seine letzten Kräfte gekostet, bei Einbruch der Dunkelheit den Berg hinunterzuklettern. Nur seine Entschlossenheit hatte ihn aufrecht gehalten. Die Wut auf sich selbst half ihm, sich zukonzentrieren und einen klaren Kopf zu behalten, als er einen guten Platz unterhalb der Höhle suchte und den Auslöser betätigte.

Als sich Rauch und Trümmer verzogen hatten, legte Rio den Kopfschief. Sein scharfes Gehör nahm in den Wäldern eine Bewegung wahr. Kein Tier, es war ein Mensch, der da kam - er hörte den zügigen Gang eines Wanderers, der jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, allein unterwegs war.

Beim Gedanken an die leichte Beute fuhren sich Rios Fangzähne aus. Seine Instinkte schärften ihm die Sicht, seine Pupillen zogen sich zusammen, als er den Kopf herumwarf, um die Gegend zu sondieren.

Und da war es wieder - das Geräusch kam von einem Bergrückenweiter südlich von ihm. Ein schlanker Mann mit einem Campingrucksack auf dem Rücken trampelte durch das Unterholz, sein kurzes blondes Haar glänzte in der Dunkelheit wie ein Leuchtfeuer. Rio sah zu, wie der Wanderer in einem lässigen Laufschritt einen laubbedeckten Abhang heruntergesprungen kam und den ausgewiesenen Wanderpfad erreichte.

Es war nur eine Frage von wenigen Minuten, bis er an Rio vorbeikam.

Er war zu ausgezehrt, um zu jagen, aber all seine Instinkte liefen auf Hochtouren und warteten auf eine Chance, den Wanderer anzuspringen.

Nahrung aufzunehmen, die er so dringend brauchte.

Der Mann kam näher, ohne das Raubtier zu bemerken, das im Schutz der Bäume auf ihn lauerte. Er war völlig unvorbereitet auf den Angriff und bemerkte Rio erst, als der mit einem gewaltigen Satz aus seinem Versteck sprang. Da schrie der Mann auf - ein Laut schieren Entsetzens. Er schlug verzweifelt um sich, aber es nutzte ihm nichts.

Rio arbeitete schnell. Er warf den jungen Mann auf die Erde und nagelte ihn mit dem Gewicht seines riesigen Rucksacks fest. Dann verbiss er sich in seinen entblößten Hals und labte sich an dem frischen Blut, das ihm heiß in den Mund schoss. Sofort ging es in seinen Organismus über, die Nahrung gab ihm Kraft für Muskeln, Knochen und Gehirn.

Rio trank, so viel er von seinem Blutwirt brauchte, nicht mehr. Mit der Zunge verschloss er die Wunde und fuhr mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn des Mannes, um diesen Angriff aus seiner Erinnerung zu tilgen.

„Geh“, sagte er zu ihm.

Der Mann stand auf, und bald schon waren sein flachsblonder Haarschopf und sein unförmiger Rucksack in der Nacht verschwunden.

Rio sah zur Mondsichel auf und spürte das starke Klopfen seines Pulses, als sein Körper die Gabe des menschlichen Blutes vollständig absorbierte.

Er brauchte diese Kraft, denn sein Jagdzug der heutigen Nacht hatte gerade erst begonnen.

Rio warf den Kopf zurück und sog die Nachtluft durch Zähne und Fangzähne, tief in seine Lungen. Seine Stammesinstinkte warengeschärft und suchten nach seiner wahren Beute. Sie war erst vor Stunden auf diesem Pfad gewesen, war verängstigt aus diesen Wäldern geflohen. Und sie hatte guten Grund, sich vor ihm zu fürchten.

Die Schönheit mit dem feuerroten Haar hatte keine Ahnung von dem Geheimnis, über das sie in dieser Höhle gestolpert war. Und auch nicht von dem Ungeheuer, das sie dabei gestört hatte.

Rios Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er das reiche Gemisch von Gerüchen in der Waldluft durchsiebte und schließlich die Duftspur fand, die er suchte. Sie war Stunden alt und verblasste schnell im feuchten Nachtwind, aber Rio hätte sie überall erkannt.

Sie konnte noch so weit vor ihm davongelaufen sein.

Er würde sie finden.

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